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Whistleblowing - Strafanzeige gegen den Arbeitgeber

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 03.07.2003 - 2 AZR 235/02

Der VW Abgasskandal soll hier allgemein zum Anlass genommen werden die Fragen einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber näher zu beleuchten.

Es kommt nicht selten vor, dass Arbeitnehmer Missstände im Betrieb des Arbeitgebers beobachten und sich fragen, ob sie diese bei staatlichen Stellen melden dürfen.

Es geht um das umgangssprachlich als „Whistleblowing“ (Verpfeifen) bezeichnete Melden des Arbeitgebers.

In der Bundesrepublik ist diese Problematik bis heute nicht vom Gesetzgeber geregelt.

Da es aber in der Vergangenheit bereits mehrfach vorkam, dass Arbeitnehmer öffentlich Missstände ihrer Arbeitgeber angeprangert oder gar angezeigt haben und diesen daraufhin gekündigt wurde, war die Rechtsprechung gezwungen gewisse Grundsätze herauszuarbeiten.

Diese Grundsätze sollen hier kurz dargestellt werden.

Zunächst ist festzustellen, dass einen Arbeitnehmer aus §241 Abs. 2, §242 BGB die arbeitsvertragliche Pflicht trifft auf die Interessen seines Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen.

Das Ansehen des Arbeitgebers in der Öffentlichkeit stellt naturgemäß solch ein schutzwürdiges Interesse dar.

Durch das Anschwärzen des Arbeitgebers wird dessen Ansehen in der Öffentlichkeit natürlich geschmälert.

Allerdings hat die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers auch ihre Grenzen.

Dem Arbeitnehmer steht wie - jedem Menschen - das Recht der freien Meinungsäußerung zur Seite (Art. 5 Grundgesetz), auch muss es dem Arbeitnehmer im Grundsatz freistehen seinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten nachzukommen (wozu auch die Anzeige von Straftaten des Arbeitgebers zählt).

Zwischen den Interessen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers ist daher ein Ausgleich zu finden, welchen die Rechtsprechung konkretisiert hat.

Hierzu lassen sich aus verschiedenen grundlegenden Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes, des Bundesarbeitsgerichtes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bestimmte Grundsätze herleiten.

1.) Strafanzeige gegen den Arbeitgeber

Eine Strafanzeige gegen den Arbeitgeber ist nicht von vornherein unzulässig, da der Arbeitnehmer seine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten uneingeschränkt wahrnehmen können soll.

Mit der Erstattung einer Strafanzeige nimmt der Arbeitnehmer eine von Verfassungswegen geforderte und von der Rechtsordnung erlaubte und gebilligte Möglichkeit der Rechtsverfolgung wahr (BVerfG 25. Februar 1987 - 1 BvR 1086/85 - BVerfGE 74, 257).

Eine Pflichtverletzung des Arbeitnehmers liegt jedoch dann vor, wenn die Anzeige wissentlich oder leichtfertig falsch ist.

Die (nicht wissentlich unwahre oder leichtfertige unwahre) Strafanzeige eines Bürgers liegt im allgemeinen Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens und der Aufklärung von Straftaten; der Rechtsstaat kann darauf bei der Strafverfolgung nicht verzichten (BVerfG 25. Februar 1987 - 1 BvR 1086/85 - BVerfGE 74, 257).

2.) Die Anzeige darf keine unverhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers sein

Auch wenn es sich nicht um eine wissentlich oder leichtfertig falsche Anzeige des Arbeitnehmers handelt, kann die Strafanzeige dennoch eine Pflichtverletzung des Arbeitnehmers darstellen, wenn sie sich als eine unverhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers auf das Fehlverhalten des Arbeitgebers darstellt.

Eine solche unverhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers auf das Fehlverhalten des Arbeitgebers kann vorliegen, wenn es dem Arbeitnehmer allein darum geht den Arbeitgeber durch die Anzeige „fertig zu machen“ oder es dem Arbeitnehmer zumutbar gewesen wäre den Versuch zu unternehmen das Fehlverhalten des Arbeitgebers durch einen Hinweis an den Arbeitgeber abzustellen (innerbetriebliche Abhilfe); es kann dem Arbeitnehmer daher zuzumuten sein vor einer Anzeige den Versuch zu unternehmen den Arbeitgeber zu gesetzeskonformen Verhalten zu bringen, dies insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber vielleicht gar nicht weiß, dass in seinem Betrieb Missstände bestehen oder Straftaten begangen werden.

Man denke an den Abgasskandal bei Volkswagen. Hier wäre es eventuell einem Mitarbeiter, welcher intern Kenntnis von den Manipulationen erhält zuzumuten gewesen den Vorstand zu informieren anstatt direkt an die Öffentlichkeit zu gehen oder Strafanzeige zu erstatten.

Also: auch die Veröffentlichung wahrer Tatsachen kann eine Pflichtverletzung darstellen, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber nur schädigen will oder eine innerbetriebliche Abhilfe möglicherweise erfolgsversprechend gewesen wäre.

Hierzu das Bundesarbeitsgericht:

Unter Berücksichtigung dieses Rahmens sind die vertraglichen Rücksichtnahmepflichten dahin zu konkretisieren, dass sich die Anzeige des Arbeitnehmers nicht als eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers darstellen darf.

Dabei können als Indizien für eine unverhältnismäßige Reaktion des anzeigenden Arbeitnehmers sowohl die Berechtigung der Anzeige, als auch die Motivation des Anzeigenden oder ein fehlender innerbetrieblicher Hinweis auf die angezeigten Missstände sprechen.

Einen vorherigen innerbetrieblichen Hinweis muss der Arbeitnehmer aber nicht unternehmen, wenn dieser nicht erfolgsversprechend ist, weil der Arbeitgeber von den Missständen in seinem Unternehmen weiß oder von den Missständen zwar nichts weiß, aber auch nichts dagegen unternehmen könnte, wenn er wollte.

Wenn wir wieder den VW Abgasskandal als Beispiel nehmen, wäre ein Arbeitnehmer daher nicht verpflichtet den Vorstand vor der Erstattung der Strafanzeige zu informieren, wenn dieser bereits Bescheid weiß.

Der Arbeitnehmer ist auch dann nicht verpflichtet den Versuch einer innerbetrieblichen Abhilfe zu unternehmen, wenn er selbst in die Gefahr gerät einer Strafverfolgung ausgesetzt zu werden, falls er untätig bleibt.

Hierzu das Bundesarbeitsgericht:

Eine vorherige innerbetriebliche Meldung und Klärung ist dem Arbeitnehmer allerdings unzumutbar, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde (KR-Etzel 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 427).

Entsprechendes gilt auch bei schwerwiegenden Straftaten oder vom Arbeitgeber selbst begangenen Straftaten. Hier muss regelmäßig die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers zurücktreten. Weiter trifft den anzeigenden Arbeitnehmer auch keine Pflicht zur innerbetrieblichen Klärung, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist. Den Arbeitnehmer in einer solchen Konstellation auf die innerbetriebliche Abhilfe zu verweisen, wäre unverhältnismäßig und würde unzulässigerweise in seine Freiheitsrechte eingreifen. Hat der Arbeitnehmer den Arbeitgeber auf die gesetzeswidrige Praxis im Unternehmen hingewiesen, sorgt dieser jedoch nicht für Abhilfe, besteht auch keine weitere vertragliche Rücksichtnahmepflicht.

Etwas Anderes wird hingegen dann gelten, wenn nicht der Arbeitgeber oder sein gesetzlicher Vertreter, sondern ein Mitarbeiter seine Pflichten verletzt oder strafbar handelt. Hier erscheint es eher zumutbar, vom Arbeitnehmer - auch wenn ein Vorgesetzter betroffen ist - vor einer Anzeigenerstattung einen Hinweis an den Arbeitgeber zu verlangen.

Nach dieser Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes, welcher sich in der Sache auch weitestgehend der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte „angeschlossen“ hat, muss einem Arbeitnehmer bei (strafbaren) Missständen im Unternehmen bei einer sofortigen Anzeigeerstattung zur Vorsicht geraten werden.

Auf der sicheren Seite bewegt sich der Arbeitnehmer dann, wenn er erfolglos den Arbeitgeber auf die Missstände aufmerksam gemacht hat und dieser nichts unternommen hat.

Bei schweren Straftaten oder drohenden erheblichen Gefahren wird dem Arbeitnehmer auch kein Abwarten und der Versuch einer „innerbetrieblichen Klärung“ zuzumuten sein.

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